Ein deutscher SegelsommerLeseprobe »Vergessen: Das untere Odertal«
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Vergessen: Das untere Odertal

Schwedt an der Westoder ist eine schöne Stadt. Sie wirkt lichterfüllt. Erst wenn man die Helligkeit über der weiten Oderlandschaft gesehen hat, wird man den Sinn des Namens verstehen. Schwedt kommt vom slawischen »zveth« und heißt Licht. Die Stadt wirkt außerdem sauber, aufgeräumt und großzügig. Kilometerlange Alleen dämpfen einen gewissen Steincharme. Die Achse bildet die achtspurige Lindenallee, an der sich der Berlischky Pavillon (heute eine Konzerthalle) aus dem Jahr 1777, Museen und ein grandioser Park mit historischer Sonnenuhr befinden. Ein gut erhaltener Altstadtkern mit Kirche und Fußgängerzone bilden das Herzstück. Der moderne sozialistische Plattenbaustil der 30000-Einwohnerstadt dominiert weit ab vom Zentrum. Als der Krieg zu Ende ging, waren in Schwedt nur wenige Bewohner übrig geblieben. Der Stadtkommandant der Nazis hatte Schwedt bis zum »wahrlich letzten Mann gegen die Russen verteidigt«.

Schwedt wurde dann wieder aufgebaut zu einer Vorzeigestadt der Sozialisten. Die Bauten waren großzügiger als in der übrigen DDR. Es gab immer alles zu kaufen – ohne die üblichen langen Schlangen vor der Kaufhalle. Schwedt wurde von Ostberlin protegiert, weil die ortsansässige Industrie Ölprodukte herstellte, die in die kapitalistischen Länder exportiert wurden. Das brachte dem Staat Devisen ein, und er bedankte sich in Form von Zulagen bei Löhnen und besserer Versorgung.

Mit Gunilla liege ich »eingedeicht« im Oderhafen. Die hohen Deiche lassen das Becken kleiner aussehen und bringen die Luft zum Kochen. Es ist seit der Peene sommerlich heiß, schön heiß, aber im Grunde: sauheiß. Die 24-Boxen-Anlage ist Eigentum des »SSV PCK 90 Schwedt«, einem Wassersportverein mit rund 30 Mitgliedern. Er ist dem größten Arbeitgeber am Ort, Petro-Chemische-Kraftstoffe, angeschlossen. Diese Firma, Hersteller von Spezialölen, ist in westdeutscher Hand. »Schon ein blödes Gefühl, wenn neun von zehn lukrativen Betrieben Westlern gehören.« Seit Barth am Bodden mag ich nach den Eigentümern von gesunden Betrieben nicht gern fragen. Dort meinte ich noch, man könne stolz sein auf ein First-Class-Hotel und eine bekannte Tomatengärtnerei. Aber wenn man dann gesagt bekommt: »Sie gehören einem Westdeutschen«, denkt man schnell, das ganze Land und alle wichtigen Posten gehören Wessis.
Ich hatte mir vorgenommen, ausführlich Tagebuch zu führen. Stattdessen verpulvere ich meine Zeit mit Boot in Ordnung halten, Zeitung lesen, rumlaufen, schwitzen. Und wenn ich Eintragungen mache, sind sie häufig lapidar, bruchstückhaft.

Gehe in weißem T-Shirt und heller, langer Hose an Land. An den sockenlosen Füßen die besten Segelschuhe, die der Markt hergibt. Als ich an mir heruntergucke, denke ich »angezogen wie von einer schicken Yacht« und grinse. In der Hafenbar des Vereins, wo ich mich anmelden will, sitzen vier Übergewichtige und ein Kind vor Tellern mit duftendem Fleisch und Spiegeleiern. Es ist 11 Uhr morgens. Ich habe noch nicht gefrühstückt.

Begrüßt werde ich sehr reserviert vom Hafenwart: »Der Herr Jonas hat gesagt, Sie sollen nichts bezahlen.« Na, dann Danke schön. Der Herr Jonas, Lutz mit Vornamen, ist der einzige

Segler des Vereins und zugleich einer der ganz wenigen Ostdeutschen, die Kap Hoorn umsegelt haben. Zusammen mit seinem Sohn Oliver und einem Freund hat er 2002 das Hoorn per Charteryacht umrundet. Der Musiker war angesichts der berühmten Felseninsel so begeistert, dass er sich vor Freude bei Sturm und Kälte alle Kleidung vom Oberkörper riss, zur Trompete griff und dem Hoorn ein »La Paloma« blies. »Schon deswegen hat sich der Mauerfall für mich gelohnt.« So ist er während meines Besuches vom Thema Feuerland nicht wegzulocken. Immer wieder kommt der 62-Jährige auf die Geschehnisse der Umrundung zurück. Zum einen begeisterten ihn die Albatrosse. Die Spannweite ihres Gefieders weiter als zwei ausgestreckte Arme. Sein ganzes Leben lang schwebt er praktisch ohne Flügelschlag hoch über dem Meer. Ästhetisch, der Anblick. Er sackt nur auf Wellenhöhe ab, um Aufwind zu finden. »Dieser Vogel macht dich großherzig«, schwärmt Lutz.

Vor Anker in der Nähe der Hoorn-Insel hat es Lutz sturmmäßig schwerer erwischt als auf See. Die Urgewalt des Windes ließ das Schiff taumeln. Fallböen legten es fast auf die Seite. Um es zu sichern, wurden Leinen und Ketten in alle Richtungen ausgebracht. Zum anderen haben ihn die Schroffheit der kahl gewehten Felsen, die schief gewehten Bäume, das undurchsichtige Grau am Himmel, das Fühlen der Abgeschiedenheit beeindruckt, und dass sie an einem Tag alle vier Jahreszeiten – »alle Wetter« – erlebten. Lutz Jonas’ Kap-Hoorn-Diplom hängt im Salon seiner selbstgebauten Slup Travieso. Das dazugehörige Fotoalbum steht im Regal. Die Seekarte von Feuerland liegt ausgebreitet auf dem Tisch. Und wenn er darauf schaut und erzählt, hat er diesen Glanz in den Augen, den Menschen haben, die ein lang erträumtes Ziel verwirklicht haben. Ich freue mich mit ihm, mag ihn in seinen Ausführungen nicht unterbrechen. Einem Musiker glaube ich ohnehin alles.

Lutz Jonas hat geschafft, wofür ich fünfzehn Jahre gebraucht habe: Kap Hoorn in beiden Richtungen zu umrunden. Zwar ist er nur kurz und dicht um die Hoorn-Insel gesegelt. Aber immerhin, und als Draufgabe hat der sympathische Schwedter die Hoorn-Insel bestiegen und sich dort den berühmten Kap-Hoorn-Stempel abgeholt.

Warum ich über das Hoorn so ausführlich schreibe? Immer wenn ich von dem sturmumtosten Kap und überhaupt Patagonien lese, höre oder darüber berichte, kribbelt es. Ich fühle mich hingezogen. Werde unruhig, aufgeregt. Entwickle eine Leidenschaft, die ich bei Südseeinseln nicht mehr habe. – Wie soll ich jetzt fortfahren? Mit Schwedt? Mit dem Nationalpark Unteres Odertal? Der unvergleichlichen beeindruckenden Naturlandschaft? Mit einem Freund, den ich in Schwedt habe?

Nehme ich das Städtchen Gartz, den ersten Ort, nachdem ich Polen verlassen habe. Dort parkte ich genau gegenüber einer Garagenansiedlung. Typisch Ost der Bau: verputzte Fassaden, Pultdach mit Teerpappe belegt, Holztore. Davor junge Männer, die an ihren Autos werkelten. Ein Autoradio spielte währenddessen Grönemeyer. Es herrschte eine lockere Stimmung – bis, ja, bis der Hafenkassierer kam: »Töne weg.« Und bei mir die kuriose Summe von 5,12 Euro – hier kassiert die Stadt – fällig war. »Toilette gibt es nicht.« Wenn ich muss, sollte ich ihn anrufen, er brächte mir dann den Schlüssel für die »Öffentliche Bedürfnisanstalt.« Die befindet sich in der Stadt. Halbwüchsige Jungen, die abends am leeren Kai angelten, wohlgemerkt weit und breit nächtigte keine Yachtcrew außer mir, wurden rüde weggescheucht. »Dies ist eine Anlegestelle und kein Angelkai.« Was Wunder, wenn die paar Jugendlichen, die der Stadt geblieben sind, aggressiv werden. Zerschlagene Fenster und Flaschen, umgekippte Bänke und ausgeschüttete Abfallkörbe deuteten beim morgendlichen Rundgang darauf hin.

Die Ortschaft hat eine alte und veraltete Gesellschaft. Das Misstrauen Fremden gegenüber ist groß. Fotografieren von Gebäuden wird als Angriff gesehen. Beim Ablichten des Kopfsteinpflasters schlägt eine alte Frau mit dem Besen nach dem Stativ. Was gibt es noch zu Gartz zu sagen: Als ich in Friedrichsthal festmache und ein Motorbootfahrer wissen will, woher ich komme und »Gartz« antworte, sagt er: »Dat sieht da aus, als ob die Leute denken, der nächste Krieg kommt bald. Lohnt sich alles nicht.«

Zwischen Gartz und Schwedt übernachtete ich in der Welsemündung. Was früher eine unberührte Naturlandschaft war, ist heute ein Binnenhafen. Ein Schiff war nicht vorzufinden. Sah nicht so aus, als ob anderntags eins käme. Ich ankerte mittendrin auf fünf Meter Tiefe. Solo. Nördlich Siloanlagen, südlich eine Papierfabrik. Der Hafen ist neu und mit einer Steinböschung komplett eingefasst. Eigentlich wunderbar in die Kiefernwälder eingefügt. Allerdings wohl drastisch überdimensioniert, wie ich in Schwedt erfahre.

Ein Morgen zum Erinnern. Das Deck noch um 8.30 Uhr nass. Deutet auf weiterhin bestes Wetter. Nicht der Hauch eines Luftzugs. Spiegelungen – die Kiefern oberhalb der Böschung fließen in den stillen Hafen. Eine Stille, die man mit Zähneputzen nicht unterbrechen möchte. Zwei Jungen kommen mit einem Gummikanu aus der Welse angepaddelt. Sind aus Vierraden. Für Kai und Falko bin ich eine Seltenheit. Ein Boot mit Mast und »so niedlich«. Am liebsten möchten sie ein Runde mit mir segeln. Aber: null Wind. Sie erzählen vom Film, den sie gestern in Schwedt gesehen haben – »Matrix Reloaded«. Und sie erzählen vom Tabak, der gerade in dieser Gegend hektarflächig angebaut wird. Von Tabakscheunen, wo die Blätter getrocknet werden und dem tollen Geruch. Ob sie sich von dem heimischen Tabak schon mal eine gedreht haben? »Na klar. Die Blätter liegen ja überall rum.« Am liebsten hätten sie mich nach Vierraden mitgenommen, aber die Welse ist flach. Flacher als mein Boot.

Doch jetzt zu meinem Freund Helmut Schuster, meinem Radsportfreund aus jungen Tagen. Wir trainierten zusammen. Die Berge hoch, an Kanälen entlang. Wir fuhren Radrennen in Schwerin, in Rostock, in Wismar, in sonst wo. Zwei Jahre getreten. Gewonnen? Nichts Großartiges. Am Ende: Er flog heftig auf die Nase, ich floh in den Westen. Damit war für beide das Thema aktiver Radrennsport zu Ende. Ich lernte den Beruf des Seemanns und verlor mich ins Segelleben. Er verließ Mecklenburg Richtung Schwedt, machte seinen Mechanikermeister und war bis vor kurzem in der Petrochemie tätig. Was ihm die Wende gebracht hat? »Ich bin von der Karl-Marx-Straße in ein Reihenhaus an den Schlosswiesen umgezogen.« Und wie viele Ostdeutsche hat er ausgedehnte Reisen unternommen. Was machen zwei, die sich nach 46 Jahren wiedersehen? Sie umarmen sich. Sie grillen im Garten. Was mir an ihm gefällt, ist, dass er sich nicht übereilt gewendet hat. »Ur-Mecklenburger wenden sich nicht im Handumdrehen.«

Der Abschied in Schwedt hat etwas Familiäres. Bepackt mit Gurken, Tomaten, Zwiebeln, Salat aus den Kleingärten meiner Freunde, mit Eiern, Brot, einem Buch der Region werde ich von Helmut und Christiane, von Lutz, Oliver und Marvin verabschiedet. Alle werfen noch einen Blick in das Innere der Gunilla, und los geht’s auf den Strom, der kein eigentlicher Strom ist, sondern ein strömungsfreier Kanal. Gedanke: Ach Mann, einen Tag hättest du in dieser Atmosphäre zugeben sollen. Aber das dachte ich schon einige Male. Werde mich wohl noch öfter mit diesem Gedanken plagen. Nur, würde ich ihn immer umsetzen, reichte mein Sommer nicht.














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Ein deutscher Segelsommer
240 Seiten, 52 Farbfotos, 19 S/W-Fotos und Karten, broschiert
Delius Klasing Verlag  |  EUR 12,90
ISBN 978-3-7688-1972-5

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