Segeln mit Wilfried ErdmannLeseprobe Kapitel 6 »Sinn und Motiv eines Törns«
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Sinn und Motiv eines Törns

»60 Prozent der Männer zieht es in ihren Träumen in die weite Welt hinaus: Sie würden mit dem besten Freund am liebsten eine Weltumseglung machen. Da steckt Abenteuerlust dahinter, aber auch der Wunsch, ein harter Mann zu sein.« (Umfrage einer Illustrierten zum Thema »Träume der Deutschen«)

Es ist so weit. Die große Fahrt kann beginnen. Freunde und Familie stehen am Steg und warten, dass du endlich ablegst. Aber in dir krampft sich der Magen zusammen. Du musst wieder und wieder auf die Toilette. Fummelst am Rigg, räumst auf in der Kajüte, nur um die Abfahrt zu verzögern. Richtest den Blick gen Himmel. Möge doch schlechtes Wetter aufziehen. Nur heute nicht ablegen, nur heute nicht ... So lange habe ich mich vorbereitet. Jahrelang geplant für meine große Fahrt um die Erde, und jetzt ...: Wo ist all mein Mut geblieben? Bin ich gut genug? Ist mein Schiff gut für den Ozean? Habe ich auch nichts Wichtiges vergessen?

Da geht einem allerhand durch den Kopf, wenn die Fahrt aufs Meer hinausgeht. Der große Augenblick ist plötzlich ganz klein. Mir erging es jedenfalls häufig so. Besonders schlimm war’s, als ich zur ersten Nonstopfahrt ablegte. Der Aufbruch war echt eine kleine Katastrophe. Zum erstenmal ließ ich Wertvolles zurück: Frau, Kind, Haus, Garten. Am liebsten hätte ich mich versteckt, so desinteressiert war ich ganz plötzlich, aber dummerweise (oder glücklicherweise) hatte ich meine Abfahrt den „Kieler Nachrichten“ angekündigt, und so standen da einige hundert Leute am Kai, die neugierig auf meinen Start warteten. Nach Stunden des Hinauszögerns wurde ich dann mehr oder weniger angeschubst. Zum Glück war das Wetter auf meiner Seite.

Ein Blick zurück zum Steg. Warum muss gerade ich es sein, der aufbricht, der rausfährt? Warum? Und dann noch zu solchem Unternehmen! An all den Kaps und Inseln vorbeizusegeln, wo ich eh nie wieder hinkomme. Worin liegt der Sinn?
Bei dieser großen Reise, aber auch bei den anderen spielte die Abfahrt immer eine wichtige Rolle. Ist man erst mal weg vom Land, sind alle Bedenken, alle Probleme abgeschüttelt. Der Sog in die Weite des Meeres, die vor dem Bug liegt, suggeriert Neues, weist hinaus aus Ordnung, Sicherheit, Bürgerlichkeit.
Die Motive meiner Reisen waren vielschichtig. Wer einen fulminanten Törn plant, fragt nicht lange nach Sinn und Motiv eines solchen Unternehmens. Ohnehin ist die Frage danach belanglos. Die Erde zu umsegeln, ohne einen Hafen anzusteuern, ohne unterwegs Proviant und Ausrüstung entgegenzunehmen, ist eine Bewährung, und das allein ist schon ein reizvolles Ziel.

Ich machte die Fahrten für mich, das war Beweggrund genug. Für Geld und Ruhm kann man dieses Wagnis nicht auf sich nehmen, und schon gar nicht für Anerkennung. Das reicht nicht aus, um sich und das Boot fast ein Jahr in Bewegung zu halten, konzentriert zu segeln, mit Einsamkeit und Angst, mit Sturm, Kälte, aber auch Glück und Euphorie allein fertig zu werden.

Obwohl die praktische Vorbereitung immer sehr zügig ging, habe ich jahrelang – zumindest im Kopf – an der ersten Nonstopfahrt gearbeitet.

Mich interessierte vor allem, ob ich es schaffen würde, die Geldmittel für ein neues Schiff zusammenzubekommen und damit das richtige – vermeintlich richtige – Schiff zu wählen. Mehr noch, es dann auszurüsten für die geplanten 300?Tage. Nichts Wesentliches zu vergessen, fürs Boot, für Körper und Geist. Auch an die vielen kleinen Dinge zu denken: Ersatzdüsen für den Petroleumkocher, ausreichenden Vorrat an Trockenbatterien, Nähnadeln, Kerzen, erbaulichen Lesestoff und eine Wärmflasche. Diese totale Konzentration auf eine einzige große Sache faszinierte mich stark. Die logistische Seite war eine komplexe Aufgabe und schon ein weiterer Grund, die Fahrt um alle Kaps zu machen.

Ehrgeiz war natürlich auch mit dabei. Ich wollte, dass mir als erstem Deutschen eine Nonstopfahrt rund um die Erde gelingt. Allerdings schied das Motiv Erstleistung schon nach einem Monat unterwegs aus. Es reichte bei weitem nicht, die Mammuttour durchzustehen. Das Meilendenken wurde schnell zweitrangig. Wichtiger erschien mir, wie ich mich in meiner selbst gewählten Umgebung fühlte, mich erlebte in der Natur – zwischen Augenblick und Ewigkeit.

Zudem meine ich, zum Leben gehört das Risiko. Risiko macht das Leben spannender, kribbelnder, gibt ihm Bestand – ich erfahre es intensiver, wenn ich es einsetze, weil dann alle Kräfte für mein Leben mobilisiert werden.

Und dann war da noch die Neugierde. Die Neugierde, wie es weitergeht, obschon man nicht mehr weiter mag, die Fahrt abbrechen möchte, aber dann doch nicht absackt, weil die Spannung auf das, was einen noch erwartet – Stürme, Monsterseen und die Zeit, die noch vor einem liegt – sehr groß ist. All das aber wäre nicht genug, wäre da nicht die Hauptsache: die Lust aufs Segeln.

Die Motive meiner anderen Reisen hatten mehr mit Erfahrungshunger zu tun: „Ich will was erleben.“ Ich wollte Abenteuer: Erfahrungen und Erlebnisse, die man nicht als Ware kaufen kann. Und Leistung. Ruhelos, voller Ungeduld machte ich mich schon als Siebzehnjähriger auf, die Welt zu sehen und zu erkunden. Ich gab mein Zuhause in Mecklenburg auf und flüchtete samt Rennrad in die Bundesrepublik. Ich tat es nicht, weil im Westen die Löhne höher waren und ich mehr für mein Geld bekam. Das interessierte nur nebenbei. Ich wollte abenteuerliche Fahrten machen, das war der einzige Grund meiner Flucht.

Es dauerte dann auch nur ein Jahr, und ich war unterwegs auf meiner ersten Radtour – über Nordafrika, den Orient nach Indien. Von dort aus per Frachter und als Tramp nach und durch Japan. Nach knapp zwei Jahren war ich wieder zurück in Schleswig-Holstein, voll mit Erlebnissen und Eindrücken – und neuen Plänen. Diesmal per Segelboot allein um die Erde. Damit wollte ich nicht nur sportlich reisen, sondern meiner alten Vorstellung gerecht werden – etwas zu leisten. Eine Einhand-Weltumseglung erschien mir dafür genau richtig, sie erfordert handwerkliches Können, Kopfarbeit, sportlichen Kampf, Mut und Leistung. Und nicht Leistung allein, sondern „Erstleistung“. Das waren meine jugendlichen Aspekte. Es zu etwas Ungewöhnlichem gebracht zu haben.

Das bedeutete meinen endgültigen Ausbruch aus der Ordnung. Aber ich hatte auch nicht viel aufzugeben, und deshalb war ich schnell dabei.

Die berufliche Bindung ist bei vielen Menschen, die sich mit den Wunschvorstellungen einer Langfahrt beschäftigen, ein echtes Hindernis. Entweder verliert man nach einem mehrjährigen Törn den Anschluss an die Anforderungen des Berufs oder kommt überhaupt nicht mehr in den Beruf zurück. Manchmal blockiert auch die Familie das Unternehmen. Außerdem: Man hat einfach zu viel Besitz – Haus, Hausrat. Wohin damit? All das Geld in das Boot stecken? Was machen wir mit den Versicherungen? Weiterlaufen lassen? Wer soll das bezahlen? Viele Fragen, die manchen Träumer an den Rand des Wahnsinns bringen können. Denn klar ist, wer es nicht bald packt und seine Reisevorhaben immer wieder verschiebt, der kommt in den seltensten Fällen los.

Der ideale Absprung in die Langfahrtszene ist, wenn man außer seinen Fähigkeiten, einem Boot und etwas Erspartem sonst nichts hat. Die Berufsausbildung kann gerade abgeschlossen sein, vielleicht ist man frisch verheiratet. Da klingt der Ausbruch, die Ausfahrt wie Musik. Ich meine, diese jugendliche Unbekümmertheit ist unterwegs unbezahlbar. Man empfindet stärker, ist gesundheitlich nicht anfällig, unkritischer gegenüber Beamten, Einheimischen, Lebensmitteln. Hat Hunger nach Neuem, nach Ungewöhnlichem. Man genießt dies Unterwegssein als erweitertes Lebensgefühl. Sein eingeschränktes Leben zu verlassen, um zu verwirklichen, wovon man geträumt hat – zu tun, was man will, nur der Natur und den Elementen unterworfen, ist ein seltsam befriedigendes Gefühl.

Ein reizvoller Aspekt kann auch das Gemeinschaftserlebnis sein. Zu zweit oder mit mehreren in einem Boot steigert sich das Erlebnis auch bei Schwierigkeiten und Gefahren. Denn jeder ist auf die Hilfe des anderen angewiesen, ist für die Sicherheit des Bootes verantwortlich – wenn die Fahrt ein glückliches Ende haben soll.

Für jeden Ozeanwanderer gibt es ein eigenes, mehr oder weniger „vernünftiges“ Motiv. Wobei das Motiv oder das Warum auch eine ganz persönliche Sache sein kann. Der erste, der die Welt in einem kleinen Segelboot allein umsegelte (1895–1898), Joshua Slocum, unternahm den Törn, „um wieder jung zu werden“, und „ich wollte allen mal zeigen, was ein rechtes Segelboot vermag.“ Der Hamburger Kapitän Kircheiß, der in den 1920er-Jahren den Rundtörn mit dem Fischkutter Hamburg und einer Crew von vier Mann gemacht hat, wollte „sportlich nicht irgendeinem was nachahmen“, deshalb entschloss er sich, „alle Ozeane im Winter zu überqueren“. Das hatte bis jetzt mit einem solchen Fahrzeug noch keiner gemacht. „Meine Reise“, begründete er, „sollte gleichzeitig eine Sport- und Propagandafahrt für das Deutschtum sein.“ Gedanken, die man heute kaum noch nachvollziehen kann. Wesentlich einfacher gingen dann auch seine Hamburger Nachfolger, das Ehepaar Koch, 1965 an das Unternehmen: „Unser Plan war, die Erde zu umsegeln.“ Oder Beate Kammler, die nicht sonderlich begeistert war von der heimatlichen Aussicht auf die Berliner Hinterhöfe und den Ruf ihres Freundes zum Aufbruch: „Komm, wir segeln um die Welt“ 1970 spontan annahm.

Der Franzose Bernard Moitessier fuhr 1968/69 im Rahmen einer Regatta von Einhandseglern für einen Geldpreis um die Welt. Auf der Rückreise in Führung liegend, änderte er plötzlich seine Pläne. „Du bist doch wirklich zu dumm, ein bisschen Mühe kannst du dir doch geben, um den Preis der Sunday-Times einzukassieren“, schreibt er dazu in seinem Buch. Niemand weiß genau, warum er auf die Prämie verzichtete und mit Kurs Südsee abgedreht ist. Flucht vor der Familie? Vor der Zivilisation? Hatte er, der nie „eingestiegen“ war, plötzlich davor Angst?

Gesponsert segelte dagegen der Amerikaner Robin Lee Graham 1966–1970 um die Erde. Das Magazin „National Geographic“ wollte den Achtzehnjährigen zum jüngsten Einhand-Weltumsegler machen. Nur: Schon nach kurzer Zeit hatte der Junge keine Lust mehr, allein übers Meer zu kreuzen. Der Widerwille trieb die komischsten Blüten. Im Pazifik lernte er ein Mädchen kennen und verliebte sich, dadurch verpasste er die günstigen Passatwinde. Das Vorhaben abzubrechen, erlaubte ihm der Sponsor nicht. So hangelte der Junge sich missmutig von Insel zu Insel. Die Freundin flog stets nach, was in Kapstadt schließlich zur Heirat führte. Als Graham meinte, sein Boot sei zu klein und nicht sicher genug, schaffte das Magazin gar ein neues, größeres Boot heran. Nach fünf Jahren beendete er in Kalifornien den Törn allein.

Der Brite Sir Francis Chichester machte von vornherein klar, dass ihn das Projekt Weltumseglung nur deshalb interessierte, weil er den Rekord suchte. 1966 beim Start: „Ich will die schnellste Weltumseglung bewerkstelligen, die je einem kleinen Boot geglückt ist.“ Dafür musste er ums Kap Hoorn, vor dem er durch entsprechende Literatur einen gehörigen Respekt hatte. „Ich lasse mir nicht gern Angst einjagen, aber noch mehr verabscheue ich es, mich durch Angst von etwas abhalten zu lassen. Und so bekam das Hoorn für mich eine schreckliche Faszination: als eine der größten Herausforderungen, die es in dieser Welt noch gibt.“

Der Tross der Epigonen macht es sich einfacher. Da ist von Selbstbestätigung (Gebhard), Erfüllung eines Traumes (Bufe), Abenteuer (Hausner) oder gar Zufall (Steinig) die Rede.

„Ich bin bereit, loszusegeln, einen Traum zu verwirklichen, der sich seit meiner Atlantiküberquerung (als Crewmitglied) in mir festgesetzt hat: allein um die Welt.“ Die dies schrieb, heißt Gudrun Calligaro, und die Umsetzung ist ihr als erster deutscher Frau gelungen. Sie ist eine der ganz wenigen Seglerinnen, die sich völlig Boot und Meer verschrieben haben. Das Meer ist ihre segelnde Leidenschaft.

Und da der Bogen von Leistung über Traum bis zu der etwas anderen Art des Segelns reichen soll, hier die Devise des Lübecker Langzeitweltumseglers (zehn Jahre) Burghard Pieske: „Der Weg ist das Ziel.“ Diese östliche Weisheit haben sicher viele Segler mit Staunen vernommen, stellt sie doch Kriterien von Preisverleihungen für Seemeilen und Zeit auf den Kopf.

Alle diese Motive reichen im Grunde nicht aus, die selbst gewählten Belastungen mit den erheblichen Entbehrungen und Strapazen, die so ein jahrelanger Segeltörn mit sich bringt, zu begründen. In Wirklichkeit reist man, weil die Fantasie dazu reizt, aus Neugier, Selbsterfahrungslust, aus Unruhe. Segeln über den Ozean, durch die Inselwelt der Südsee oder um den Südzipfel des amerikanischen Kontinents wird zum eigentlichen Leben selbst. Reise als Reiz, als Versprechen, als Erwartung und Spannung. Einfach: Reisen aus innerer Notwendigkeit.

Schon Homer ließ Odysseus in der Antike seinen Irrfahrten aus innerer Notwendigkeit folgen – ihn umhertreiben als einsamen Außenseiter mit der großen Sehnsucht nach Ungewöhnlichem, nach Gefahr, nach Kampf im Bauch.





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Segeln mit Wilfried Erdmann
Neuauflage
512 Seiten, 31 Farbfotos, 148 S/W-Fotos, 44 Zeichnungen, diverse Karten, Faksimiles und Tabellen, Fadenheftung, mit Schutzumschlag
Delius Klasing Verlag  |  EUR 39,90
ISBN 978-3-667-12856-0

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